Wir müssen die Homophobie in Russland boykottieren, nicht die Spiele
So die Hauptstadtbüroleiterin und LSVD-Sprecherin Renate Kampf. Als großer Fan der Leichtathletik haben mich die oft leeren Ränge im Luschniki-Stadion irritiert, vor allem aber auch das, was davor stattfand.
Eine ältere Frau wird angegriffen, weil sie gegen das Gesetz „Propaganda nicht traditioneller sexueller Orientierungen“ demonstrierte. Sie wurde von jungen Kerlen brutal geschubst und beschimpft. Die Polizei sieht zu und führt die Frau unter dem Gejohle der Masse ab. Die beliebteste russische Spitzenathletin Jelena Isinbajewa erklärt Journalisten aus aller Welt, dass Homosexualität nicht zu Russland gehöre. Sie verteidigt das Gesetz mit dem Argument, dass man sonst ja Angst haben müsse um die „Nation“. Die orthodoxe Mission, ein Zweig der russisch-orthodoxen Kirche erklärt, dass Schwule 20 Jahre früher sterben würden, weil sie krank seien. 10mal mehr Selbstmorde würden unter ihnen begangen. Sie müssten umerzogen werden.
Zugleich waren es zwei russische Weltmeisterinnen, die sich nach dem Sieg in der 4×400-Meter-Staffel, küssten. Der US-Mittelstreckler Nick Symmonds widmete seine Silbermedaille seinen schwulen und lesbischen FreundInnen. Eine schwedische Athletin malte ihre Fingernägel in Regenbogenfarben. Das IOC aber zwang die Sportlerin, ihre Fingernägel umzufärben. IOC-Präsident Rogge, der noch vor Jahren den „mündigen Sportler“ verkündete, verfügte in seiner grenzenlosen Weisheit, dass die Spiele in Sotschi „frei bleiben sollen von pro aktivem Protest und Demonstrationen jeglicher Art“, sonst würden SportlerInnen nicht zugelassen und beruft sich auf die Charta der Olympischen Spiele.
Die Situation von Homosexuellen in Europa war nie entspannt.
Homophobie erlebt gerade einen neuen Höhepunkt, nicht nur in Ost- und Mitteleuropa. Homophobie und Romafeindlichkeit konkurrieren um Platz Eins auf der Hitliste der Diskriminierungspolitik. Mich ängstigen die Hunderttausende, die in Frankreich gegen die Homo-Ehe demonstrierten, die neue ungarische Verfassung, die Homosexuelle ausgrenzt, die bedenkenlose Verunglimpfung von Homosexuellen im Baltikum, das Treiben der katholischen Kirche in Polen und nun Russland mit einem Gesetz, das Homosexuelle in die Illegalität treibt.
Die „russische Tradition“ der Verfolgung Homosexueller ist tief verwurzelt. Nur von 1922 bis 1934 gab es keine Strafen aufgrund von Homosexualität. Es entstand eine schul-lesbische Großstadtkultur, Clubs und die russische Sauna „Banja“ wurden berühmt. Nach 1934 führte Stalin im Strafgesetzbuch den §121 ein, wonach Homosexualität eine Persönlichkeitsstörung und Straftat sei. An dem Artikel wurde während der Sowjetzeit kein Anstoß genommen. Erst mit der Perestroika erfolgte eine Liberalisierung. Offiziell änderte sich nichts. Homosexuelle galten bis zur Wende selbstverständlich als Kranke, Perverse und Kriminelle. Erst 1993, nach dem Zerfall der Sowjetunion, wurde der § 121 abgeschafft. NGO`s entstanden, Clubs und Zeitungen. Die beiden lesbischen Sängerinnen Julia und Lena sangen für den Eurovision Song Contest und belegten Platz 3.
Mit Putins Neuauflage als Präsident im März 2012 wurde ein Kurswechsel eingeleitet. „Diese Szenarien werden in unserem land nicht durchgehen“, so Putin. Wer in Russland Öffentlichkeit herstellt für Homosexualität, muss mit Geldstrafen bis zu 25.000 Euro rechnen. Öffentliche Äußerungen sind verboten, NGO´s und die HIV-Aufklärung stehen auf der Kippe.
Was nun tun?
Ein Olympiaboykott bringt uns nicht weiter. Die schwer angeschlagenen Beziehungen zu Russland würden weiter verschlechtert und die Möglichkeit der Unterstützung von MenschenrechtsaktivistInnen geringer. Bei Olympia aber geht es mehr als um Sport. Rogges Maulkorb ist der Lage kaum dienlich. Meinungsfreiheit muss es für SportlerInnen geben, egal wo sie antreten. Wer es ernst meint mit den Menschenrechten, sollte darüber nachdenken, was nach den Spielen kommt. Als Linke, als Abgeordnete egal welchen Parlamentes, müssen wir die russischen MenschenrechtsaktivistInnen unterstüzen. Dazu gehört, dass der Kampf gegen Homophobie auf die Agenda in Europa und unseren eigenen Mitgliedsstaaten kommt. Denn nach den Olympischen Spielen kommt es darauf an, Solidarität zu üben, damit sich in Russland etwas ändert. Im Europaparlament arbeiten wir gegenwärtig an einer Roadmap zur Bekämpfung von Homophobie, die innerhalb der EU umgesetzt werden, aber auch beispielgebend für andere Länder werden soll.
Cornelia Ernst (MdEP), Stellvertretendes Mitglied des FEMME-Ausschusses im Europaparlament, erschienen in LINKS! September 2013
*Foto: © ENOUGH is ENOUGH! – OPEN YOUR MOUTH!