Die EU am Scheideweg…
Wenn dieser Artikel in unserer Zeitung erscheint, dann wird das Referendum am kommenden Wochenende bereits Geschichte sein. Wir werden so oder so in einer neuen Situation sein und die Frage stellt sich, was das für eine Europäische Union ist, in der wir leben. Ob sie noch etwas zutun hat mit einem europäischen Integrationsprozess und dem Gründungsmotto „Vereint in Vielfalt“ oder eben derselbe auf dem Altar eines mitgliedsstaatlichen Nationalistenstadls geopfert wurde. Die Stimmung ist mittlerweile überall aufgeheizt und „die Griechen, die ihr Geld unter dem Kopfkissen horten“, wie in der ARD am Wochenende festgestellt, werden zu den Buhleuten des Kontinents. Chauvinismus pur. Wer hätte das gedacht 70 Jahre nach dem Ende eines Krieges, dessen geistige Wurzeln ebenfalls Chauvinismus waren. Wir werden uns als Linke Gedanken machen müssen, wie wir uns hier künftig aufstellen, was von dieser Union noch zu erwarten ist und was nicht. Ich bin wahrlich eine Europäerin durch und durch. Genau aber deshalb glaube ich reichen die üblichen Proteste nicht aus. Wir müssen begreifen, dass alles, was momentan in Athen geschieht, eine Angelegenheit der gesamten Linken in Europa ist. Es trifft uns, direkt. Und wir sind als Linke auch direkt gemeint. In gewissem Sinne müssen wir Europa verteidigen, gegen die selbstgerechten Zerstörer unter ihrer Anführerin Merkel.
Dass die Griech_innen wenigstens jetzt selbst über sich entscheiden, in einer Angelegenheit, gilt in Demokratien als das Normale. Wo ist die Demokratie in Europa geblieben? Diese Frage stellte auch der griechische Europaminister, unser Freund Nikos Chountis, der lange Jahre im Europaparlament war. Als unsere Fraktion zu ihren Studientagen in Athen war, Anfang Juni, stellte er in den Raum: Wozu haben die Griechinnen und Griechen eigentlich gewählt? Welchen Sinn haben Wahlen, wenn keine eigenständige Politik gemacht werden darf? Was ist daran demokratisch? Wieso entscheiden andere über die Rentenhöhe der griechischen Pensionäre? Wieso legt die Troika fest, wieviel Mehrwertsteuer die Bürger zahlen? Und wieviel Lohn griechische Bürger bekommen?
Was wir erleben ist der Tiefpunkt europäischer Kultur und Staatspolitik, zerstörerisch, rücksichtslos, inhuman, unverzeihlich. Und alle, wirklich alle politischen Bereiche in Griechenland sind betroffen. Das Land bekommt keine EU-Mittel ausgezahlt, solange die Verhandlungen anstehen. Alle Programmauszahlungen sind gestoppt. Das Memorandum verbietet es Leute einzustellen oder wieder einzustellen. Wir waren bei der griechischen Migrationsministerin, ein neues Amt, geschaffen, um die Situation der Flüchtlinge endlich zu verbessern. Die Ministerin arbeitet gegenwärtig fast nur mit Ehrenamtlichen. Das Memorandum verbietet es ausdrücklich, Juristen als Rechtsbeistand und Sozialarbeiter für Flüchtlinge einzustellen. Gemeinsam mit meinen Fraktionskolleg_innen aus dem Innenausschuss haben wir ein griechisches Flüchtlingslager besucht, ein Detention Center. Diese Center sind Gefängnisse, in denen zu Vor-Syrza-Zeiten, Flüchtlinge bis zu 18 Monate eingesperrt wurden. Die Ankündigung, diese Gefängnisse aufzulösen, beantwortete die EU-Kommission damit, für einen solchen Fall die entsprechenden EU-Mittel zurückzufordern. Da diese Millionen aus bekannten Gründen nicht vorhanden sind, wurden die Center geöffnet und die Verweildauer auf 6 Monate verkürzt. Zugleich reist die Migrationsministerin durchs Land, um Wohnungen für Flüchtlinge mit Bürgermeister_innen zu erschließen. Zeitgleich kommen Tausende neue Flüchtlinge auf den griechischen Inseln an. Dringend wäre es nötig, dass andere Mitgliedsstaaten bei der Aufnahme von Flüchtlingen Unterstützung gewähren. Italien und Griechenland platzen förmlich aus den Nähten. Aber dafür konnten sich die EU-Innenminister bekanntlich nicht durchringen. So ist die Lage.
Da ist die viel gepriesene Solidarität. Und nicht viel anders ist in anderen Bereichen. Arbeitsbeschaffungsprogramme zur Armutsbekämpfung hat die neue griechische Regierung beschlossen, Programme, die sie nicht umsetzen kann, weil sie keinen Cent dafür hat. Also werden gerade Dinge im Parlament beschlossen, die möglichst nichts kosten. Dazu gehört das Gesetz zur Anerkennung der Homo-Ehe und die Anerkennung der Staatsbürgerschaft von Migrantenkindern, die in Griechenland geboren sind.
Die EU steht am Scheideweg. Vermag sie noch Impulse für soziale Entwicklung in den Mitgliedstaaten und Wahrung der Humanität zu vermitteln? Oder ist sie längst untergegangen im Getöse der neuen Führerschaft im nicht geeinten Europa.
Ich weiß es nicht.
Veröffentlicht in LINKS! (07/2015)